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In guten wie in schlechten Tagen

Ehekrisen, Untreue und der Anstieg der Scheidungsraten - Eine Ursachenanalyse

Autor: Prof. Dr. Hartmut Esser, Lehrstuhl für Soziologie und Wissenschaftslehre, Universität Mannheim

Nahezu in allen westlichen Industrieländern sind in den letzten Jahrzehnten die Scheidungsraten deutlich angestiegen - auch in der Bundesrepublik Deutschland. Die Entwicklung verlief jedoch nicht ganz geradlinig. Nach dem Krieg waren die Scheidungsraten erst einmal sehr hoch: Kriegsheimkehrer, Besatzungsehen und die allgemeine Krisensituation sind die einleuchtenden Ursachen. Zur Adenauer- und Wirtschaftswunderzeit sank die Scheidungsrate rasch auf einen Tiefpunkt, um dann seit etwa 1960 gleichmäßig und durchaus dramatisch wieder anzusteigen.

Inzwischen hat die Scheidungsrate einen neuen Höhepunkt erreicht (siehe Abbildung 1). Woran aber liegt diese Entwicklung? Die Mannheimer Scheidungsstudie, die zwischen 1993 und 1997 am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung durchgeführt wurde und bei der 2500 verheiratete und 2500 geschiedene Paare (jeweils in erster Ehe) erfasst wurden, hatte sich u.a. die Beantwortung dieser Frage zum Ziel gesetzt. Es gibt eine Reihe von plausiblen und inzwischen auch gut belegten Hypothesen dazu: die Zunahme von Urbanisierung, Individualisierung, Säkularisierung und ökonomischer Unabhängigkeit von Ehe und Familie, speziell bei den Frauen, sowie das Fehlen von Kindern, die als sog. ehespezifisches Kapital die Ehen stabilisieren.

Abbildung 1: Der Anstieg der Scheidungsraten

 

Die Vorstellung von der Ehe als unverbrüchliche Beziehung - das "Framing" - geht zurück

In dem Projekt wurde eine weitere, bisher so kaum beachtete Ursache angenommen: der Rückgang der so genannten "Rahmung" der Ehen bei ihrem Beginn als einer Angelegenheit, die von den Partnern als unverbrüchlich angesehen wird und bei der größere Zerwürfnisse, Ehekrisen, Untreue, Trennung oder gar die Scheidung als unvorstellbar angesehen werden. Diese Rahmung besteht als die fest verankerte "Einstellung", wonach die Ehe den Partnern als eine von ihnen selbst nicht antastbare, geradezu sakrale "Institution" gilt. Es geht ihnen um mehr als die bloße "fun production" in einer Zweierbeziehung, bei der man rasch wechselt, wenn es nicht mehr ganz so prickelt. Der wichtigste öffentliche Ausdruck dieser Einstellung ist die kirchliche Heirat, und ein zentrales Element für das Paar selbst ist der beiderseitige Wunsch nach einer "richtigen" Familie mit mehreren Kindern. Die Festigkeit dieses Rahmens hängt auch davon ab, wie gut die Paare von ihrer Einstellung und ihrem Lebensstil her zueinander passen und wie sehr sie sich mit ihrer Ehe in ihren jeweiligen Verwandtschaften aufgehoben fühlen können.

Die Rahmung bleibt in den darauffolgenden Ehejahren nicht zwangsläufig gleich, denn es kann, wie man weiß, viel passieren. Entsprechend sind wir davon ausgegangen, dass eine heftige Ehekrise oder gar die (dem Partner bekannt gewordene) Untreue selbst einen ehemals festen Rahmen u.U. komplett zerstören können. Bleiben die Fragen: Wie sehr bestimmt die ursprüngliche Rahmung der Ehe als unverbrüchlicher Bund fürs Leben das Risiko einer Scheidung? Zerstören Ehekrisen und/oder Untreue diesen Rahmen der Unverbrüchlichkeit tatsächlich? Und wenn ja, lässt sich daraus dann folgern, dass die Scheidungsraten so dramatisch angestiegen sind, weil Ehekrisen und Untreue im Laufe der Zeit zugenommen haben?

Scheidungsraten nehmen zu

In den Daten der Mannheimer Scheidungsstudie fanden sich zunächst - wie kaum anders zu erwarten - ebenfalls deutliche Hinweise auf einen Anstieg der Scheidungsraten über die Zeit. Das sieht man in Tabelle 1, Spalte a. Dort sind die Scheidungsrisiken für fünf so genannte Heiratskohorten aufgeführt - typische Jahrgänge also, in denen die Eheschließungen stattfanden. Hier sind das die 50er, 60er, 70er, 80er und 90er Jahre (mit 1996, dem Jahr der Befragung, als letztem erfassten Heiratsjahrgang).

Tabelle 1: Faktoren des Scheidungsrisikos

Faktoren
a
b
c

Kohorte:

50
60
70
80
90

--
2.62
3.75
4.49
5.46
--
2.28
2.75
3.05
3.26
--
1.74
2.28
2.67
3.35

Scheidung Eltern
Dauer Paar
nichteheliche Lebensgemeinschaft
Trennung vorher
Scheidung vorher

 
1.30
0.89
0.93
1.95
2.06
1.31
0.88
0.90
1.55
1.32

schwaches Framing
nicht religiös

 
4.30
2.43
1.74
1.66

beide Abitur
Mann voll erwerbstätig
mind. 1 Kind
Besitz
Frau voll erwerbstätig
Großstadt

 
0.71
0.44
0.66
0.66
1.57
1.61
0.46
0.62
0.78
0.69
1.57
1.38

Ehekrise
Untreue

   
2.25
12.02

Die Ziffern in der Tabelle lassen sich so lesen: Jeder Wert gibt an, um welche Proportion sich das Risiko (hier: das für eine Scheidung) gegenüber einem Bezugswert ändert. Wir haben hier die 50er Jahre als Bezugswert genommen, weil damals die Scheidungsraten am niedrigsten waren. Der Wert von 2.62 für die 60er Kohorte gibt also beispielsweise an, dass sich für diesen Jahrgang das Scheidungsrisiko um das 2.62-fache gegenüber der 50er Kohorte erhöht hat. Wenn sich das Risiko bei einer Variablen senkt, dann erhält man eine Ziffer, die kleiner als 1 ist. So senkt z.B. das erste Kind das Scheidungsrisiko um das 0.66-fache gegenüber kinderlosen Paaren. Als Bezugskategorie dient die jeweilige Komplementärkategorie (z.B. "religiös" oder "Frau nicht voll erwerbstätig").

Mannheimer Scheidungsstudie bezieht Framing mit ein

Die Kohorteneffekte beschreiben den Anstieg, erklären ihn aber nicht, denn die bloße "Zeit" ist sozial bedeutungslos. Dahinter stecken andere, "substantielle" Ursachen. Die in der Tabelle aufgeführten Faktoren sind solche, von denen die Forschung annimmt, dass sie für das Scheidungsrisiko von Bedeutung sind: die Scheidung der Eltern, die "Vorgeschichte" der Ehe, die Dauer der Beziehung vor der Heirat, ein evtl. Zusammenleben zuvor, Trennungs- und Scheidungserfahrungen der Partner vor ihrer Beziehung, die Religiosität, die Bildung, die Erwerbstätigkeit von Mann und Frau, Kinder und gemeinsamer Besitz sowie die Größe des Wohnortes. Wir haben - als eine der Besonderheiten der Mannheimer Scheidungsstudie - die beschriebene Rahmung der Ehe zu Beginn, ihr "Framing" wie es auch heißt, hinzugefügt.

Alle diese Faktoren verändern das Scheidungsrisiko, und es könnte sein, dass sich die Scheidungsraten im Laufe der Zeit deshalb geändert haben, weil es andere Verteilungen in diesen "individuellen" Faktoren gegeben hat. Am Beispiel der sog. Scheidungstransmission wird dies klar: Man vermutet, dass Kinder von geschiedenen Eltern ein höheres Scheidungsrisiko haben, beispielsweise, weil sie den Gedanken an eine Trennung als "Möglichkeit" schon im Kopf haben. Entsprechend geht man davon aus, dass sie sich im Ernstfall eher scheiden lassen als Kinder, deren Eltern auf Gedeih und Verderb zusammen geblieben sind.

Kohorteneffekt: Zeitgeist als Risikofaktor für die Ehe

Wenn nun die Zahl der geschiedenen Eltern immer größer wird, dann müsste ein Teil der o.a. Kohorteneffekte damit erklärt werden können, dass eben diese Risikogruppe in den Kohorten immer mehr vorkommt. Diesen "Verteilungseffekt" der Veränderungen in den Risikofaktoren kann man aber statistisch herausrechnen. Und nur, was dann noch an Effekt übrig bleibt, lässt sich als "Kohorteneffekt" deuten, etwa als Wirkung eines bestimmten "Zeitgeistes" oder eines "gesellschaftlichen Klimas" - so wie in der 68er Zeit, wo es bekanntermaßen hieß: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum (verachteten) Establishment".

In Spalte b von Tabelle 1 stehen die Ergebnisse für diese Faktoren und für die so jetzt neu berechneten Kohorteneffekte. Und man erkennt ganz deutlich: Fast alle genannten Faktoren haben eine Wirkung auf das Scheidungsrisiko (die kursiv gedruckten Werte zeigen an, dass es keinen besonderen Effekt gibt). Manche Faktoren erhöhen das Scheidungsrisiko (wie die Trennung von einem früheren Partner, die Vollerwerbstätigkeit der Frau oder das Leben in der Großstadt), manche senken es (wie die Vollerwerbstätigkeit des Mannes, gemeinsame Kinder und gemeinsames Eigentum) und einige haben nur einen schwachen bis gar keinen Einfluss (wie, erstaunlicherweise, die Scheidung der Eltern und das nichteheliche Zusammenleben vor der Ehe).

Das Framing zu Beginn der Ehe ist entscheidend

Besonders stark aber ist die Wirkung des Framings: Bei einem schwachen Framing steigt das Risiko für eine Scheidung gegenüber dem starken Framing (also: kirchliche Heirat, Wunsch nach einer "richtigen" Familie, gute Passung zueinander, Akzeptanz in den jeweiligen Verwandtschaften) um das 4.30-fache. Das ist die stärkste Wirkung überhaupt! Gleichzeitig ist aber erkennbar, dass die Kohorteneffekte gesunken sind, etwa bei der 90er Kohorte von zuerst 5.46 auf jetzt 3.26. Das kann man so interpretieren: Etwa 40% des Anstiegs der Scheidungsraten in den 90er Jahren gegenüber den 50er Jahren (die Differenz von 2.20 zwischen 5.46 und 3.26) lässt sich durch Berücksichtigung der individuellen Faktoren erklären, also dadurch, dass in dieser Zeit die individuellen Risikofaktoren zugenommen haben und die Scheidungsraten deshalb gestiegen sind. Die restlichen 60% gehen auf andere Faktoren zurück, will man nicht bloß den "Zeitgeist" als Ursache annehmen.

Wir haben nun vermutet, dass eine Zunahme der Ehekrisen und der Untreue ein möglicher Erklärungsansatz wäre - gerade eingedenk der sog. sexuellen Revolution in den späten 60er Jahren. Und genau diese Annahme bestätigt sich in Spalte c von Tabelle 1: Ehekrisen und ganz besonders die Untreue treiben die Ehen in den Ruin. Und man erkennt am deutlichen Rückgang des Framing-Wertes (1.74 gegenüber zuvor 4.30) auch, woran das liegt: Nun ist der Rahmen der Unverbrüchlichkeit zerstört, der die Ehe zuvor gehalten hatte. Diese Ziffern besagen, dass - wenn es denn, wie auch immer, zur Krise und zur Untreue gekommen sein sollte - der alte "Rahmen" und die Versprechungen zu Beginn der Ehe nichts mehr zählen.

Weiterer Anstieg des Scheidungsrisikos in den 90er Jahren

Interessanterweise lässt sich jedoch der Kohorteneffekt damit nicht weiter erklären. Die Werte ändern sich nur wenig, und doch ist für die 90er Jahre ein weiterhin erhöhtes Scheidungsrisiko zu verzeichnen. Woran aber mag das liegen? Zur Beantwortung dieser Frage sehen wir uns - analog zu den Scheidungen - einmal an, wie sich im Laufe der Zeit das Vorkommen der Ehekrisen und der Untreue geändert hat und wovon diese Änderungen ihrerseits abhängen. Die entsprechenden Ergebnisse finden sich in den Tabellen 2 und 3.

Tabellen 2 und 3: Faktoren der Ehekrise bzw. der Untreue

Faktoren ...

... der Ehekrise

(Tabelle 2)

... der Untreue

(Tabelle 3)

a
b
a
b

Kohorte:

50
60
70
80
90

--
2.69
3.91
5.77
7.43
--
2.21
2.76
4.12
5.67
--
2.76
3.54
3.38
3.41
--
2.31
2.27
2.00
1.84

Scheidung Eltern
Dauer Paar
nichteheliche Lebensgemeinschaft
Trennung vorher
Scheidung vorher

  1.32
1.00
0.91
1.32
1.03
 
1.32
0.95
0.99
2.28
2.56

schwaches Framing
nicht religiös

 
7.20
1.35
 
4.76
2.28

beide Abitur
Mann voll erwerbstätig
mind. 1 Kind
Besitz
Frau voll erwerbstätig
Großstadt

 
1.30
0.68
0.92
1.20
0.76
1.59
 
1.81
0.81
0.77
0.83
1.24
0.93

In der Spalte a von Tabelle 2 haben wir (genau wie in Tabelle 1) die "reinen" Kohorteneffekte der fünf Heiratskohorten für die Ehekrisen aufgeführt. Wie daran deutlich zu erkennen ist, haben die Ehekrisen noch stärker zugenommen als die Scheidungen (um das 7.43-fache in den 90er Jahren gegenüber den 50er Jahren). Selbst wenn man die Risikofaktoren einbezieht, vermindern sich die Kohorteneffekte nicht wesentlich. Damit wird das Framing zu Beginn der Ehe zur alles entscheidenden Größe. Umgangssprachlich gesagt: Bei den schwach gerahmten Ehen ist von Beginn an der Wurm drin, und es gibt dort schon sehr bald Streit.

Die anderen Faktoren sind jetzt vergleichsweise weniger wichtig, und manche drehen ihre Wirkung auch um. So steigert Bildung das Krisenrisiko, während es bei Berufstätigkeit der Ehefrau sinkt - ganz anders als bei den Scheidungen. Deutlich weniger Ehekrisen gibt es auch bei Paaren, die schon vor der Hochzeit zusammen gelebt haben. Sie scheinen diese Phase, wenn sie denn heiraten, offensichtlich schon hinter sich gebracht zu haben. Diese Fälle sind besonders aufschlussreich, weil sie "erklären" helfen, warum sich bei den Scheidungen und Ehekrisen die Kohorteneffekte nicht weiter vermindern ließen. Sie wirken, sozusagen, gegen den Trend. Denn: Es gibt über die Kohorten hinweg immer mehr nicht-eheliche Beziehungen und Frauenerwerbstätigkeit, die, wie man sehen kann, die Wahrscheinlichkeit von Ehekrisen verringern. Damit stehen sie dem ansonsten ungebrochenen Trend zu immer mehr Scheidungen entgegen. Und der liegt, auch das kann man jetzt sagen, vor allem daran, dass der Anteil der stark gerahmten Ehen mit der Zeit immer kleiner geworden ist.

Untreue kommt heute genauso oft vor wie vor 30 Jahren

Wie sieht das nun bei der Untreue aus? Auch hier gibt es eine Zunahme, aber der große "Schub" liegt schon eine Weile zurück: Stieg die Untreue im Rahmen der 68er-Bewegung sprungartig an, hat sich seitdem kaum etwas geändert (siehe Tabelle 3). Auf der Suche nach den Ursachen für Untreue erscheint erneut die Rahmung der Ehe als der wichtigste Faktor, dicht gefolgt von einer turbulenten Vorgeschichte: Sind die Eltern geschieden oder hat einer der Partner vorher schon einmal eine Trennung oder Scheidung erlebt, dann steigt die Neigung zur Untreue besonders deutlich. Im Gegenzug verringern, für uns nicht unerwartet, eine stärkere Religiosität und gemeinsame Kinder das Seitensprungrisiko. Die Untreue scheint daneben eher eine Sache der höheren Bildungsschichten zu sein, und auch die Berufstätigkeit der Frau trägt dazu bei, wegen der sich damit bietenden Gelegenheiten, wie man vermuten kann.

Mit der statistischen Kontrolle all dieser Größen wird der Kohorteneffekt für die Untreue vergleichsweise klein. Man kann sogar eine interessante Umkehr des üblichen Trends erkennen: Nach dem deutlichen Anstieg der Neigung zur Untreue zu den Zeiten der sexuellen Revolution in den 60er Jahren verringerte sich in der Folge der "reine" Zeiteffekt eher wieder - von 2.31 über 2.27 auf 2.00 und schließlich sogar auf nur noch 1.84 in den 90er Jahren. Der Anstieg der Untreue seit den 60er Jahren ist also (fast) allein darauf zurückzuführen, dass die Vorgeschichten turbulenter geworden sind, das Framing der Ehen abgenommen hat, die Religiosität zurück gegangen ist und sowohl der Bildungsgrad wie die Frauenerwerbstätigkeit zugenommen haben. All dies hat die Sitten gelockert, während der "Zeitgeist" (ablesbar an den statistisch "bereinigten" Kohorteneffekten) eher konservativer geworden ist.

Das trifft sich im übrigen mit einigen immer wieder vorgebrachten, aber bisher systematisch nicht belegten, Vermutungen über eine (angeblich) "neue" Moral der ehelichen Treue: Nach den wilden 68er Zeiten hätte sich gezeigt, dass die mit einem ausschweifenden (Sexual-)Leben mit mehreren Simultan-Partnerschaften verbundenen Belastungen auf die Dauer kaum auszuhalten seien. Folglich habe es eine Rückbesinnung auf die Monogamie, wenigstens für die Zeit der Beziehung, und eine teilweise ganz bewusste und "rationale" Enthaltsamkeit in diesen Dingen gegeben. Wenigstens seit den 80er Jahren mag auch die AIDS-Problematik in Sachen Treue eine Rolle gespielt haben.

Trend: Wer sich nicht sicher ist, heiratet erst gar nicht

Wahrscheinlicher jedoch ist eine andere Hypothese, die wir freilich mit unseren Daten auch nicht belegen können: Wenn es, wie Tabelle 3 deutlich zeigt, v.a. die turbulenten Vorgeschichten sind, die Seitensprünge begünstigen, und wenn man davon ausgeht, dass gerade die Paare mit den turbulentesten Vorgeschichten erst gar nicht mehr heiraten, dann bleiben im "Pool" der Ehen eher nur noch die übrig, die in diesen Dingen zurückhaltender sind. Was also auf den ersten Blick wie eine Re-Moralisierung aussieht, ist womöglich nichts anderes als das Ergebnis eines weiteren allgemeinen Trends, der Auflösung des alten Beziehungsmodells: Wer sich seiner Sache nicht ganz sicher ist, heiratet erst gar nicht und kann daher auch keinem Ehepartner untreu werden. Wer aber heiratet, der nimmt es - wenigstens im Vergleich - mit der Treue wieder etwas ernster.

Aufgrund der relativ großen Fallzahlen in der Mannheimer Scheidungsstudie konnten die Heiratskohorten noch feiner aufgegliedert werden als in den Tabellen oben. Damit lassen sich gewisse Sonderbewegungen besser erkennen und Effekte deutlicher unterscheiden. In Abbildung 2 und 3 haben wir die so neu berechneten Ergebnisse graphisch dargestellt. Es beginnt mit den Ehen, die zwischen 1930 und 1948 geschlossen wurden, dann kommt die Periode zwischen 1949 und 1954, ab da geht es, weil die Fallzahlen groß genug sind, in Drei-Jahres-Schritten weiter bis zur letzten Kohorte zwischen 1989 und 1996 (dem Jahr der Untersuchung).

Abbildung 2 gibt den Fall der einfachen Kohorteneffekte ohne Berücksichtigung der individuellen Faktoren wieder (also analog jeweils den Spalten a in den Tabellen oben), und in Abbildung 3 stehen die Kohorteneffekte nach Kontrolle aller individuellen Faktoren (also wieder analog den Spalten b). Bei den "einfachen" Kohorteneffekten (Abbildung 2) sieht man, dass die Ehekrisen kontinuierlich angestiegen sind und das höchste Risiko bieten, was aber auch kaum verwunderlich ist. Auch die Scheidungsrisiken steigen, jedoch nicht in dem Maße wie die Ehekrisen. Die Untreue bleibt, wenn man so will, hinter diesen Entwicklungen zurück. Man sieht zwar, dass in den späten 60er Jahren tatsächlich etwas geschehen ist: Für eine kurze Zeit schießt die Neigung zur Untreue über das Scheidungsrisiko hinaus. Dann bleibt sie jedoch (wieder) mehr und mehr dahinter zurück. Die (in der Beziehung bekannt werdende) Untreue sprengt zwar, so kann man zusammenfassen, die einzelne Ehe, und zwar nahezu auf der Stelle (wie Tabelle 1, Spalte b belegt), aber sie ist nicht das entscheidende Moment für den Zeittrend ansteigender Scheidungszahlen.

Abbildung 2: Der Anstieg von Ehekrisen, Untreue und Scheidungen (einfache Effekte)

Dafür sind vielmehr die Ehekrisen verantwortlich. Ganz besonders deutlich wird dies, wenn man die individuellen Faktoren herausrechnet und so die "reinen" Zeitgeist- bzw. Kohorteneffekte betrachtet (Abbildung 3): Untreue und Scheidungsrisiken stagnieren, doch die Ehekrisen wachsen weiter nahezu ungebremst in ungeahnte Höhen. Sie lassen sich auch nicht einfach dadurch erklären, dass die Ehen schlechter geworden wären, wie das bei der Untreue und der Scheidung noch gesagt werden kann. Ganz im Gegenteil: Wie wir oben gesehen haben, erhöhen Bildung und gemeinsamer Besitz die Neigung zu Krisen, während die Erwerbstätigkeit der Frauen sie eher verhindert.

Abbildung 3: Der Anstieg von Ehekrisen, Untreue und Scheidungen (kontrollierte Effekte)

 

Fazit: Paare erwarten heute mehr voneinander

Kurz: Die Ehen sind nicht unbedingt schlechter und die Paare auch nicht wesentlich untreuer geworden, wohl aber sind sie bei gleicher "Qualität" der Beziehung deutlich anfälliger für das Gefühl, dass etwas nicht stimmt - und zwar schon bei relativ kleinen Anlässen. Es ist ganz offensichtlich so, wie es die Familiensoziologie hier und da schon lange vermutet hat: Der Zuwachs der Scheidungsraten in den letzten Jahrzehnten hat zu einem großen Teil damit zu tun, dass die Paare subjektiv immer mehr voneinander verlangen: den immerwährenden "honeymoon" der expressiven Erfüllung. Alles andere, wie z.B. die materielle Versorgung, wird demgegenüber vergleichsweise unwichtig.

Da es die ewigen Flitterwochen aber auch in postmodernen Zeiten nicht geben kann, entsteht bald und bei immer mehr Paaren das Gefühl, in der Partnerschaft nicht das zu bekommen, was man ersehnte. Dann ist die Krise da, und bald auch die Versuchung, sich anderweitig umzutun. Gelegenheiten gibt es viele. Schließlich ergeht es immer mehr Menschen ebenso. Früher blieb man unter ganz anderen Umständen zusammen und sah die Ehe auch dann nicht in einer Krise, wenn man dafür allen Grund gehabt hätte. Dies lag nun nicht allein daran, dass man nicht so viel von einander erwartete wie heute, sondern insbesondere auch daran, dass man kaum eine Alternative hatte - und das in fast jeder Hinsicht.

Die komplette Studie

Zu den Einzelheiten der Mannheimer Studie und den hier skizzierten theoretischen Zusammenhängen: Hartmut Esser: "In guten wie in schlechten Tagen? Das Framing der Ehe und das Risiko zur Scheidung. Eine Anwendung und ein Test des Modells der Frame-Selektion", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 54, 2002, S. 27-63.

 

    

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